Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit?

mein öffentliches Langzeit- und verlängertes Kurzzeitgedächtnis

                 

Klimaschutz durch Verkehrswende? Da macht Münster lieber nicht mit


Disclaimer: Ich arbeite seit dem 1. März 2020 für die Stadt Münster (in der Stabsstelle Smart City). Den folgenden Text habe ich vor meinem jetzigen Arbeitsverhältnis mit der Stadt Münster geschrieben und veröffentlicht. Er spiegelt meine damalige Meinung wider.


Gestern, am 14. März 2018, hat die Polizei Münster eine Infoveranstaltung zum richtigen Verhalten für Fahrradfahrer auf der Promenade in Münster gegeben. Dort wurden letztes Jahr 3.295.990 Radfahrer(inne)n gezählt, die tatsächliche Anzahl dürfte aber etwa 30% höher liegen, also bei ca. 4,2 Millionen (es gab einen technischen Defekt der Zählstelle, Zahlen sind als offene Daten hier interaktiv einzusehen). Dieser technische Fehler – obwohl leicht identifizierbar, wenn man sich länger als 1 Minute mit den Zahlen beschäftigt – wird aber geflissentlich übergangen von der Redaktion des lokalen Käseblatts sowie von der Polizei Münster, die die falsche Zahl vorsorglich nochmal auf 3 Millionen abrundet (s. Titel der Pressemitteilung). Es sind ja sowieso schon viel zu viele von diesen rumwuselnden Radfahrer(inne)n unterwegs. Sollen die doch Auto fahren, dann werden sie auch nicht so schnell überfahren!

Was mich noch mehr stört als die Schaffung alternativer Fakten Verdrehung der Fakten, ist die Tatsache, dass es trotz dieser hohen Anzahl an Radfahrer(inne)n immer noch keine nennenswerte Kreuzung an der Promenade gibt, an denen die Radfahrer Vorfahrt haben vor den Straßen, auf denen umweltschädliche Verkehrsträger zugelassen sind (sprich: insbesondere motorisierter Individualverkehr). Stattdessen werden die Unfallopfer1 beraten, wie sie sich denn zu verhalten hätten. Ich weiß von keiner entsprechenden Aktion für die Autofahrer, sehe aber zumindest gefühlt immer mehr Radfahrer(innen), die als Bauarbeiter verkleidet in knallgelben Warnwesten herumfahren.

Diese Art und Weise der Verkehrserziehung schiebt die Schuld am Unfall auf die Opfer, weil sie ja nicht sichtbar gewesen seien. Hier noch ein Vorschlag zur Verkehrssicherheit, der garantiert funktioniert: Einfach zuhause bleiben, dann kann man auch nicht überfahren werden! Richtig ist, dass wenn ein(e) Autofahrer(in) mit seinem/ihrem Auto eine(n) Radfahrer(in) anfährt, die Chance für den/die Radfahrer(in) schwer bis tödlich verletzt zu werden um ein Vielfaches höher ist, als die entsprechende Chance für den/die Autofahrer(in). Also ist doch klar, dass man Kampagnen gegen die potentiell tödlichen Verkehrsmittel machen muss, anstatt den Opfern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Stattdessen warnt die Polizei Münster per Twitter Raser, indem sie mitteilt, wo sie blitzen wird.

Potentiell tödlich sind Verbrennungsmotoren auch noch, wenn man den Klimawandel betrachtet, eine menschengemachte Katastrophe, auf die wir jetzt (!) reagieren müssen, und nicht, wie es z.B. Christian Lindner gerne hätte, irgendwann dann, wenn die Wirtschaft sich dazu bequemt. Leider ist aber von Seiten der Stadt Münster nach wie vor kein Umdenken in Richtung nachhaltige Verkehrspolitik zu erwarten. Im konkreten Fall der Vorfahrt für Radfahrer(inne)n auf der Promenade brauchte es selbst für ein Verhältnis von „15 .000 Radler[n] und 50 Autos“ an einer völlig unbedeutenden „Kreuzung“ Jahre (nach Aussagen eines beim ADFC Münster Aktiven sogar Jahrzehnte), bis die Radfahrer(innen) Vorfahrt hatten. Trotzdem geht auch schon dieser minimale Erfolg und die Debatte über mehr Vorfahrt für Radfahrer(innen) der Autolobby zu weit, hier dem Automobilclub Münster: „[O]rtsfremde Autofahrer werden völlig überrascht sein, dass hier Radfahrer Vorfahrt haben […]“. Können ortsfremde Autofahrer(innen) keine Verkehrsschilder interpretieren? Sollten sie dann potentiell todbringende Maschinen bedienen?

Richtig ist, dass viele Radfahrer(innen) in Münster insbesondere an der Promenade die Vorfahrtsregeln nicht so ganz ernst nehmen. Das nervt mich auch oft gewaltig. Aber für mich ist das eher ein Indiz der zu großen Teilen katastrophalen Radverkehrs-Infrastruktur in der angeblichen „Fahrradstadt“ Münster. Zwar betont der Münsteraner Oberbürgermeister Markus Lewe vollmundig und werbewirksam: „In Münster zum Beispiel haben wir vor Langem eine hervorragende Fahrradinfrastruktur geschaffen“. Stimmen tut an diesem Zitat aber eigentlich nur das „vor Langem“. Aktuell ist die Radinfrastruktur in Münster über weite Teile marode und statt beim Neubau wenigstens aktuellen Standards bezüglich der Radwegbreite zu folgen, macht die Stadt Münster so weiter wie immer. Noch nicht mal an das erst kürzlich verabschiedete (und zu Recht kritisierte) Radverkehrskonzept 2025 will sich die Stadt bei aktueller Straßen-Neuplanung halten. Dazu ist die Radinfrastruktur gemessen an den Zahlen der Radfahrer(innen) völlig unterdimensioniert während gleichzeitig das massenhafte, illegale Gehwegparken (mit Kfz) seitens der Stadt toleriert wird. Wichtiger als Nachhaltigkeit, Gesundheit und Gerechtigkeit scheint stets der Raumbedarf der immer größer werdenden motorisierten Ungetümer zu sein. Im Gegenteil müsste man aber endlich dem todbringenden Kfz-Verkehr Platz wegnehmen!

Statt das Potential der – trotz der miserablen Infrastruktur immer noch – vielen Radfahrer(innen) in Münster zu nutzen und auf nachhaltige Verkehrsplanung zu setzen – das heißt insbesondere: Kfz raus aus der Stadt! – investiert die schwarz-grüne Stadtregierung aber lieber in teure kosmetische und äußerst zweifelhafte Projekte: Gestern hat der Rat der Stadt Münster beschlossen, dass alle Fahrradstraßen rot angepinselt werden sollen. Für knapp 6 Millionen Euro.

Update, 24. März 2018

Am 20. März haben der ADFC Münsterland und die IG Fahrradstadt Münster zusammen mit Verantwortlichen der Stadt Münster eine Befahrung der Promenade gemacht. Die be/versprochenen Ergebnisse lesen sich vielversprechend. Ich hoffe, dass die Taten der Stadt meiner obigen Beschreibung der Lage schnell widersprechen, bleibe aber skeptisch.

Update, 2. August 2018

Die Stadt Münster bleibt sich treu und setzt selbst kleinste versprochene Änderungen zur Verbesserung der miserablen Lage des Radverkehrs nicht um (siehe Update vom März, weitere Infos und Links auf Twitter). Ich muss bisher leider bei meinem Fazit bleiben: Die Stadtregierung und Verwaltung möchte den Radverkehr nicht fördern. Ein Lichtblick ist die grüne Jugend, die mit der Kampagne Leezenstadt die interaktive Meldung von Problemen in der Radinfrastruktur leicht gemacht hat. Danke! Oh Wunder: Drei Wochen nach Kampagnenstart sind schon deutlich mehr als 200 Probleme gemeldet! Hoffentlich schaffen es die mit-regierenden (!) Grünen endlich, ihrer Parteipolitik auch Taten folgen zu lassen. Ein letztes Wort in eigener Sache: Dass Münster beim Klimaschutz nicht mitmachen möchte (wie mein Titel suggeriert), stimmt natürlich nicht, es gibt einige vielversprechende Kampagnen. Das Thema nachhaltige Mobilität als Teil von Klimaschutz aber wird, wie oben zum Thema Radverkehr beschrieben, sträflich vernachlässigt. Auch der ÖPNV wird längst nicht so gefördert, wie es sinnvoll wäre. Wichtiger als nachhaltige und effiziente Mobilität ist der Stadtverwaltung offensichtlich, dass Privat-PKW günstig in der Innenstadt parken können.

Update, 3. August 2018

Ich habe den Titel dieses Artikel von „Verkehrswende? Klimaschutz? Da macht Münster lieber nicht mit“ geändert zu „Klimaschutz durch Verkehrswende? Da macht Münster lieber nicht mit“. Außerdem: Gestern hat Münster aus meiner (und der Sicht einiger weiterer Menschen) zu Unrecht den Deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen – zumindest die Begründung der Jury zur nachhaltigen Mobilität ist offensichtlich nicht mit der Realität verglichen worden. In anderen Bereichen mag Münster den Preis aber wohl verdient haben.

Update, 10. Dezember 2018:

Im November tat sich dann doch endlich etwas an der Kreuzung Promenade / Aegidiistraße / Am Stadtgraben. Immerhin sogar mehr, als nur (einige wenige) Masten zu versetzen. Die größte Änderung betrifft den Neubau des Promenadenteilstücks zwischen der Aegidiistraße und der Straße Am Stadtgraben. Dieser ist nun endlich etwas breiter und hat eine gute Oberfläche. Prinzipiell aber hat sich an dem gesamten Kreuzungsbereich m.E. nur wenig geändert:

  • Wer weiter auf der Promenade Richtung Schloss fahren will, auf den/die wartet das übliche Chaos nach der Ampel: Der Radweg führt weder direkt auf die Promenade zu noch gibt es genügend Platz, um Radfahrer(innen), die nach links Richtung Aasee, halbrechts Richtung Promenade, oder entgegenkommend von der Promenade sowie zahlreiche Fußgänger(innen) konfliktfrei aneinander vorbeizuführen.
  • Um vom Aegidiimarkt kommend nach links auf die Promenade abzubiegen, muss man offiziell nach wie vor beide Richtungen Autoverkehr vorbeilassen; anstatt eine andere Verkehrsführung (z.B. Linksabbiegerspur) zu verwirklichen, wurden einfach nur die bereits vorhandenen Striche auf der Fahrbahn erneuert.
  • Vom Kanonengraben kommend in Richtung Aegidiimarkt fahrend hat sich auch wenig verbessert. Immerhin ist durch das (auf der falschen Seite) stehende “Vorfahrt achten”-Schild die Vorfahrtslage nun eindeutig geklärt. Allerdings stehen nach wie vor einige Masten im Weg, die ein komfortables Weiterfahren erschweren.

Zusammenfassend: Immerhin hat sich etwas verbessert, insgesamt wurde aber die Chance vertan, die Kreuzung nachhaltig zu verbessern. Ich gehe leider nicht davon aus, dass es deutlich weniger Unfälle dort geben wird. Schade. Hier gibt es eine Einschätzung der IG Fahrradstadt zur Umgestaltung, die das Ganze etwas positiver sieht. Auch bezeichnend: Die offizielle Pressemitteilung der Stadt, die die Baumaßnahmen ankündigt, wurde mit einem Foto veröffentlicht, das die Kreuzung aus einer Perspektive zeigt, von der aus man auch nach der Baumaßnahme nahezu keine Verbesserungen des “komplizierten Kreuzungspunkts” erblicken kann.


  1. Nachweislich werden mehr Radfahrer(innen) als Kfz-Fahrer(innen) Opfer eines Unfalls: Zahlen von 2016 ↩︎

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