Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit?

mein öffentliches Langzeit- und verlängertes Kurzzeitgedächtnis

                 

Trotz Klimakrise und Chaos bei Deutscher Bahn: Verkehrsministerium setzt weiter auf klimaschädliche Vergangenheitstechnologien

Es ist Donnerstag, der 25. Juli 2019, der heißeste Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnung in Deutschland. Heute muss ich von Münster nach Berlin. Wohlwissend um die Klimakrise fahre ich bewusst mit umweltschonenden Verkehrsmitteln, heute also mit der Bahn. Mit dem IC nach Dortmund, dort umsteigen in den ICE nach Berlin, hört sich doch gut an. Wer einigermaßen regelmäßig Bahn fährt, weiß aber, dass, weil der Bund die Bahn kaputtgespart hat, es immer wieder zu kurzfristigen Planänderungen kommt.

Der IC nach Dortmund hat Verspätung, ich erreiche den ICE also nicht. Da ich früh genug am Bahnhof bin, drückt mir die wortkarge und sichtbar genervte Mitarbeiterin einen Zettel in die Hand mit den Worten „Müssen Sie gleich auf Gleis 12, sind dann sogar leider eine Stunde früher in Berlin“. Ich danke ihr und laufe zu Gleis 12. Ein Blick auf den Zettel sagt mir allerdings, dass der empfohlene Zug um 12:57 abfahren sollte, es ist aber 13:45. Kurz davor umzudrehen, um die Dame auf die aktuelle Uhrzeit hinzuweisen, fällt mein Blick auf die Anzeigetafel: 70 Minuten Verspätung. Aja. Das hätte sie mir ja sagen können. Oder mit ausdrucken.

Mit diesem verspäteten Zug soll ich nun einen ebenfalls verspäteten IC in Osnabrück erreichen, der von Amsterdam nach Berlin fährt. Anstatt auf einen verspäteten Zug zu setzen, versuche ich meine Erfolgschancen zu erhöhen, indem ich einen IC nehme, der in 7 Minuten ebenfalls in Richtung Osnabrück fährt, aber planmäßig 10 Minuten vorher und bei dem keine Verspätung am Gleis angezeigt wird. Dass das ein Ersatzzug für einen ausfallenden IC ist, ist mir egal. Einen Sitzplatz habe ich eh nicht reserviert.1

Im Nachhinein ist man oft schlauer. Nun weiß ich, dass Ersatzzug in diesem Fall hieß, dass drei Wagen weniger mitfahren. Zusätzlich ist die Klimaanlage in einem Wagen kaputt. Entsprechende Stimmung im Zug, insbesondere als ein Wortgefecht um Sitzplatzreservierungen ausbricht. Merke: Ersatzzug heißt auch, dass keine Reservierungen mehr gelten (Siehe Fußnote 1). Während mein Zug nicht losfährt, fährt auf dem Gleis gegenüber der IC mit den 70 Minuten Verspätung ein. Und dann los. Tja, falsche Entscheidung. Durch eine Weichen- und eine Türstörung fahren wir dann erst mit 15 Minuten Verspätung los. Mein Anschluss wird wieder knapp.

In Osnabrück erwische ich den verspäteten IC nach Berlin gefühlt so gerade eben (aktuelle Anschlussinfos im Zug gab es leider nicht). Natürlich fährt der Zug nicht direkt weiter, sondern steht noch relativ lange am Bahnhof. Ohne Ankündigung am Bahnsteig hat der Zug eine umgekehrte Wagenreihung. Also mehr Verspätung und Gedränge (weil Fahrgäste mit Sitzplatzreservierung einmal quer durch den Zug müssen). Als der vollbesetzte Zug endlich losfährt, verkündet die deutlich zu leise Durchsage, dass in drei Wagen die Klimaanlage ausgefallen ist. Wegen zu wenig Sitzplätzen, wird aber trotzdem gebeten, dort sitzenbleiben, es gäbe Wasser in Wagen 11. Am heißesten Tag seit Beginn der Wetteraufzeichnung. Ohne die Möglichkeit Fenster zu öffnen. Das grenzt an fahrlässige Körperverletzung. Zum Glück habe ich zufällig einen Wagen mit einigermaßen funktionierender Klimaanlage und sogar einen Sitzplatz erwischt.

Die nächste interessante Information, die die zu leise Durchsage verkündet: „Wie Sie ja bereits wissen, fahren wir heute nur bis Hannover, wegen der defekten Klimaanlagen. Dort haben Sie dann Umstieg in Richtung Berlin“. Nein, dass wusste ich nicht. Und nein, davon stand auch nichts am Bahnsteig.

Naja, kann man nichts machen. Ich höre mit, wie der Schaffner einem Fahrgast erzählt, dass der nächste Zug nach Berlin ein ICE nach 30 Minuten Wartezeit im Hannover ist. Und dass dieser ICE heute aber nur mit einem statt mit zwei Zugteilen fährt. Beste Aussichten. Jetzt ist die Klimaanlage in meinem Wagen auch ausgefallen. Da der IC aus Amsterdam kommt, sind viele nicht deutschsprachige Passagiere dabei. Trotz fehlender englischer Durchsage funktioniert das Übersetzen durch die (den ständigen Ausnahmezustand gewohnten) deutschsprachigen Passagiere ganz gut.

Kurz vor Hannover nach mehreren Minuten Stillstand die Durchsage: „Unser Gleis ist immer noch belegt, es stehen dort zwei defekte Züge, die gerade geräumt werden müssen. Wir probieren jetzt auf einem anderen Gleis einzufahren und hoffen, dass das klappt.“ Endlich dann in Hannover angekommen steht ein Regionalexpress auf dem Gleis, wo in ca. 30 Minuten der ICE nach Berlin einfahren soll. Dieser RE hätte vor 10 Minuten abfahren sollen, laut Anzeigetafel. Es tut sich aber: nichts. Der ICE nach Berlin hat 10 Minuten Verspätung. Gute Nachrichten, das ist ja pünktlich! Acht Minuten nach planmäßiger Abfahrtszeit dieses ICEs die Durchsage: „Dieser Zug fällt aus.“ Keinerlei Erläuterung warum. Fahrgäste nach Berlin werden gebeten, in den IC Richtung Dresden am anderen Bahnsteig zu steigen und in Braunschweig in einen anderen ICE umzusteigen. Der IC nach Dresden, entsprechend voll, fährt immerhin. Und die Klimaanlage funktioniert! In Braunschweig angekommen fährt dann tatsächlich ein ICE ein (mit 65 Minuten Verspätung). Die letzten anderthalb Stunden gibt es dann zwar keinen Sitzplatz (völlig überfüllt), aber immerhin eine leidlich funktionierende Klimaanlage im Bordbistro. Und so treffe ich sogar mit nur 60 Minuten Verspätung (aber durchgeschwitzt) in Berlin ein.

Zusammenfassung: Statt einem Umstieg und ca. 4 Stunden Fahrzeit: 3 Umstiege, ca. 5 Stunden Fahrzeit, 3 Züge mit deutlicher Verspätung, ein ausgefallener Zug, nur ein Zug mit komplett funktionierender Klimaanlage.2

Wer ist schuld? Was tun?

Die Deutsche Bahn fährt ganz offensichtlich auf den letzten Resten ihrer Substanz. In einem der reichsten Länder der Welt. Bei horrenden Ticketpreisen. Die meisten BahnmitarbeiterInnen geben sich redlich Mühe diesen nahezu täglichen Ausnahmezustand einigermaßen gut über die Bühne zu kriegen. Vielen Dank dafür! Schuld an dieser Misere hat eine Verkehrspolitik, die seit Jahrzehnten bis heute hauptsächlich auf das Vergangenheitsprodukt Automobil setzt – trotz bekannter Gesundheits- und Umweltschäden, die die Automobilität mit sich bringt.

Während Hunderte Fahrgäste im IC schwitzen, gibt es einen „Krisengipfel“ vom Bundesbenzinkanister Bundesverkehrsminister Scheuer. Endlich, mehr Geld für die Bahn, weniger Autobahnen, Kerosinsteuer, etc.! Weit gefehlt, der Autominister, der mit der Umsetzung der offensichtlich EU-rechtswidrigen, aber von seiner Rechtsaußenpartei CSU unbedingt geforderten Ausländermaut erst vor wenigen Wochen krachend gescheitert ist (und damit eindrucksvoll gezeigt hat, dass Geld offensichtlich kein Problem ist); dessen Ministerium nach dem Innenministerium die höchsten Ausgaben für externe Berater hat (das Verteidigungsministerium ist allerdings nicht berücksichtigt worden, weil es noch nicht geantwortet hat; ganz offensichtlich ist das eine der schlechtesten und teuersten Beratungen, die man sich so denken kann); der naturwissenschaftliche Erkenntnisse anzweifelt; dieser Autominister also trifft sich mit seinem österreichischen Kollegen, weil er darüber böse ist, dass in Österreich (völlig verständlicherweise) Straßen für mit dem Auto durchreisende Touristen gesperrt sind. Außerdem Thema: Zu viele LKW, die sich in Bayern stauen. Ergebnis: Deutschland möchte mehr Anreize für Verlagerung auf die Schiene schaffen, hinkt aber selber mit dem Aufbau der entsprechenden Infrastruktur „15 bis 20 Jahre hinterher“.

Und all das, am heißesten Tag in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Wir haben immer noch eine Regierung, die die Klimakrise offensichtlich nicht ernst nimmt und weiter klimaschädlichen Verkehr subventioniert und diese klimaschädliche Politik sogar noch fortsetzen möchte. Während in der Arktis seit Wochen Brände noch nie dagesehener Größe wüten, braut sich unterdessen am Horizont eine PR-Kampagne des Industrielobbyverbands INSM gegen Klimaschutz an und Kritik am Lebensstil des Überflusses (verantwortlich für die Klimakrise!) wird als Klimahysterie und Angriff auf Demokratie und Freiheit beschimpft. Diese angebliche Freiheit bringt Menschen um! Das ist keine Freiheit, das ist Menschenverachtung!3

Unsere Zeit läuft ab. Meine Bitte an Euch, die Ihr das hier lest: Toleriert keinerlei Ablenkungsmanöver mehr von den Profiteuren der fossilen Industrie. Informiert Euch, lebt so nachhaltig wie möglich, vernetzt Euch und werdet aktiv (z.B. bei der Blockade der IAA oder dem internationalen Klimastreik am 20. September).

Und habt Hoffnung.


  1. Sitzplatzreservierungen bei der Bahn sind ohnehin eine unverschämte Abzocke und schaffen ohne Not eine dritte Klasse (Leute ohne Sitzplatzreservierung). Mal ganz davon abgesehen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ich die Reservierung in Anspruch nehmen kann gegen 0 tendiert (eine Störung des Reservierungssystems erlebe ich in mehr als der Hälfte aller Fernverkehrszüge). In anderen Ländern sind Sitzplätze im Ticketpreis inkludiert. Eine vernünftige Bahngesellschaft verkauft nicht mehr Tickets als Sitzplätze (oder deutlich billigere Tickets wenn der Zug überbucht ist). ↩︎

  2. Bilanz Rückfahrt: 140 Minuten Verspätung (immerhin nicht durch die Bahn verschuldet: Böschungsbrand & Personenunfall), deshalb einmal mehr umsteigen, kaputte Klimaanlage in einem Wagen. Und jede Menge Sitzplätze! ↩︎

  3. Fürs Protokoll: Ich bin ein Verfechter von Freiheit. Aber eben eine Freiheit, die keine anderen Menschen einschränkt, geschweige denn umbringt. ↩︎

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